Vortrag Dr. Stephan Schleissing Röntgen-Gymnasium Würzburg, 24. Juni 2010
Das Innere röntgen
Der Mensch im Blick von Naturwissenschaft und Theologie
wo man Hände, Körper, ja das Gehirn durchleuchten kann, – bleibt da noch irgendetwas im Menschen selber unentdeckt, unerkannt und höchst persönlich? Müssen wir uns vor so einem „Röntgenblick“, der auch gut verhüllte Körperteile, ja selbst dicke Mauern durchleuchten kann, schützen – oder ist es umgekehrt: Erst der „Röntgenblick“ – der Blick des Naturwissen-schaftlers – vermag uns wirklich zu schützen, denn er allein verschafft uns sichere Erkennt-nisse über Vorgänge im Innern von Menschen und hilft uns damit, uns besser zu verstehen? Was passiert, wenn wir unser Inneres durchleuchten? Darüber möchte ich mit Ihnen heute nachdenken.
Angesichts der Fortschritte der Technik auf dem Weg zum „gläsernen Menschen“ fürchten viele Zeitgenossen um den Schutz ihrer Intimsphäre und ihrer Persönlichkeit. Das war 1896, ein Jahr nach der Entdeckung der von Wilhelm Conrad Röntgen so genannten X-Strahlen nicht anders als heute. Nachdem die von Röntgen selbst angefertigte Fotographie der Hand seiner Frau Bertha als eines der ersten „Motive“ der neu entdeckten Strahlung um die Welt gegangen war, befürchteten viele, dass nun der Unmoral Tür und Tor geöffnet sei. Immerhin: Bereits 1896 offerierte eine Londoner Firma X-Strahlen-sichere Unterwäsche. Auch in Wien befürchtete man Moral zersetzende Wirkungen der Strahlenwirkung, so dass es sogar zum Verbot öffentlicher Experimente kam. Heute lächeln wir darüber. Und doch: Als vor gut einem halben Jahr der amtierende Innenminister der Bundesrepublik Deutschland angesichts eines vereitelten Terroranschlags im Flughafen Detroit öffentlich darüber nachdachte, sogenannte Körperscanner zur Verbesserung der Personenkontrolle einzuführen, da regte sich Protest nicht nur von Datenschützer, sondern auch von zahlreichen Politiker. Alsbald sprach man nur mehr von dem „Nacktscanner“, weil dieser nicht nur Körperformen, sondern auch Genitalien, Implantate oder Prothesen darzustellen vermag.
Der Blick ins Innere eines Menschen ruft vielfältige, zum Teil widersprechende Erwartungen und Assoziationen hervor. Das war schon zu Röntgens Zeiten der Fall. Als der berühmte amerikanische Forscher Thomas Alva Edison im Februar 1896 ankündigte, über die Röntgenstrahlen zu forschen, da richtete ein englischer Großverleger an ihn die Bitte, eine Durchleuchtung des Kopfes anzufertigen. Der war – für viele immer noch und wohl auch für ihn – Sitz der Seele, und eine Röntgen-Aufnahme würde vielleicht, so durfte er vermuten, Aufschluß über das Funktionieren und Produzieren der Seele geben.
Dr. Stephan Schleissing, Vortrag: Das Innere röntgen, Würzburg 24. Juni 2010
Aber woher kommt es, dass wir das Innere des Menschen als sein eigentliches Zentrum verstehen? Mit dieser Frage möchte ich den ersten Teil meines heutigen Vortrags eröffnen. Die Antworten werden zugleich deutlich machen, warum das Verständnis der geistigen Natur des Menschen im 20. Jahrhundert aufgrund der Fortschritte in Naturwissenschaften und Technik in eine Krise geraten ist, – eine Krise, an der – so werde ich argumentieren – die Geisteswissenschaften, aber auch die Theologie nicht ganz unbeteiligt ist. Dieser Komplex ist Thema meines zweiten Vortragskapitels. In einem dritten Teil werde ich dann auf einige ethische Herausforderungen zu sprechen kommen, die sich heute aufgrund der „Sichtbarkeit“ nicht nur des Menschen, sondern auch seiner Zukunft ergeben. Und schließlich möchte ich abschließend einige Überlegung aus Sicht eines christlichen Menschenbildes beisteuern, mit dem diese ethischen Herausforderungen vielleicht sinnvoll angegangen werden können.
1. Das „Innere“ als Wesen des Menschen
„Die schönste Eigenschaft des deutschen Menschen, auch seine berühmteste, auch diejenige, mit der er sich wohl am liebsten schmeichelt, ist seine Innerlichkeit“ hat Thomas Mann im Jahre 1923 in einer Gedenkrede einmal gesagt. Und er fährt fort: „Die Innerlichkeit, die Bildung des deutschen Menschen, das ist: Versenkung; ein individualistisches Kulturge-wissen, der auf Pflege, Formung, Vertiefung und Vollendung des eigenen Ich, oder, religiös gesprochen auf Rettung und Rechtfertigung des eigenen Lebens gerichtete Sinn; ein Subjektivismus des Geistes also, eine Sphäre – ich möchte sagen – pietistischer, autobio-graphisch bekenntnisfroher und persönlicher Kultur, in der die Welt des Objektiven, die politische Welt als profan empfunden und als profan abgelehnt wird – „weil denn“ wie Luther sagt, „an dieser äußerlichen Ordnung nichts gelegen ist.“1
Die Rede vom „deutschen Menschen“ bei Thomas Mann ist primär nicht Ausdruck eines Nationalismus, aber doch sehr wohl für ein Überlegenheitsgefühl gegenüber der von ihm damals noch etwas verächtlich wahrgenommenen Oberflächlichkeit z.B. des american way of life; diese Einschätzung sollte sich aber bei Mann später fundamental verändern (worauf ich jedoch nicht weiter eingehen kann). Das Thomas-Mann-Zitat versammelt einschlägige Topoi eines typisch deutschen Bildungshumanismus, der unser Denken über Kultur und Geist zutiefst geprägt hat. Innerlichkeit das ist: Versenkung, geistige Bildung, Vollendung des Ich durch Bewusstmachung und Transzendenz. Und auch darin hat Thomas Mann Recht, wenn er diese Tradition nicht nur orginär auf den deutschen Idealismus oder die Romantik zurück-führt, sondern sie zutiefst religiös – vor allem: protestantisch – grundiert versteht. Gerade Martin Luther hatte einen deutlichen Gegensatz empfunden einerseits zwischen der christli-chen Freiheit, die mir im Glauben – d.h. ohne Verdienst – zwar „von außen“ zugesprochen wird, aber doch als Gewissheit nur innerlich, im Gewissen erfahren wird, und andererseits einem bloßen „äußerlichen“ Glauben. Letzteren identifizierte er in sakramentaler Äußerlich-keit, in religiösen Bildern und guten Werken als Mitteln zum Seelenheil, und diesen bloß „äußerlichen“ Glauben sah er – ob zur Recht oder nicht, lassen wir einmal dahingestellt – in der römischen Kirche seiner Zeit am Werke. Der Wunsch nach „Sichtbarkeit des Glaubens“
1 Thomas Mann: Von deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in deutschland, Frankfurt am Main 1984, 195.
Dr. Stephan Schleissing, Vortrag: Das Innere röntgen, Würzburg 24. Juni 2010
bedeutete für Luther eine Veräußerlichung des Menschen, die diesen geradewegs in die Unfreiheit führt. Demgegenüber bewirkte das von außen an den Menschen herankommende Wort der Rechtfertigung allein aus Glauben eine lebenseröffnende Kraft, die man zwar an keinen äußerlichen Zeichen oder am Verhalten ablesen konnte, die aber doch als Ferment der Hoffnung und der Liebe unsichtbar wirksam war.
Seit dieser Zeit hat das Wort „Innerlichkeit“ gerade im deutschen Protestantismus einen emphatischen Klang, mal als Appell zu Bescheidenheit und einfachem Leben, mal als Ausdruck eines starken Moralismus. Auf jeden Fall kommt dieser Begriff regelmäßig mit viel Pathos daher, wie Thomas Mann zurecht ironisch feststellte, wenn er daran erinnert, wie man sich in Deutschland bei dieser Eigenschaft geschmeichelt fühlt.
Wie soll man heute rückwirkend über diese starke Verinnerlichung des Glaubens, wie sie im Gefolge von Reformation und Romantik einen durchaus typisch deutschen Traditionsstrang bildet, denken? Mein Urteil fällt zwiespältig aus: Einerseits bleibt anzuerkennen, dass die Wende zur „Innerlichkeit“ mit einem Emanzipationsschub von kirchlicher Bevormundung und gleichzeitig einer Entdeckung des persönlichen Lebens einhergegangen ist, die ich auch heute für den Glauben und die Aufgabe verantwortlicher Selbstbildung und Selbstbindung des Menschen – und zwar als denkendes und erlebendes Individuum in seiner Kultur – keinesfalls missen möchte. Andererseits verband sich mit dieser „Wende nach innen“ doch eine starke Moralisierung und damit Verengung der Kultur, in der die „feinen Unterschiede“ umso deutlicher hervortraten und sich bisweilen Dünkel und Überheblichkeit paarten. Davon ist allerdings heute in Deutschland so gut wie nichts mehr übriggeblieben. Aber auch in unseren gegenwärtig demokratischen Zeiten, in denen das Populäre nichts Anrüchiges mehr hat und die Religion sich vielgestaltig auslegt, hat sich eine starke Erinnerung an „Innerlichkeit“ erhalten. Freilich haben wir dafür heute einen anderen Begriff: Heute sprechen wir von dem „Authentischen“. Das „Innere“ wird heute ganz mit dem individuellen Erleben gleichgesetzt, bisweilen wird es dem Intellektuellen und dem Wissenschaftlichen sogar entgegengesetzt und seine religiöse Bestimmung ist zwar – aus Sicht z.B. der kirchlichen Lehre – beliebig. Aber wen stört das heute noch? Das „Authentische“ ist vielmehr heute die Quelle gesuchter Spiritualität und Individualität. Welche neuen Probleme sich damit heute ergeben, darauf will ich später noch einmal eingehen.
2. Die Natur des Menschen als Domäne der Naturwissenschaften
Dass sich die Wende zur „Innerlichkeit“ in Deutschland nicht nur mit einer Hochschätzung des bildungsbürgerlichen Denkens, sondern zugleich mit einer ausgeprägten Abneigung gegen alles bloß Materielle, Technische, bloß natürlich Erklärbare verband, hat kein geringerer als der erste Nobelpreisträger für Physik, Wilhelm Conrad Röntgen, am eigenen Leibe erfahren müssen. Ihn traf ein Makel, der seine wissenschaftliche Laufbahn durchaus aufs Heftigste hätte gefährden können: Er hatte kein ordentliches Abitur. Damit fehlten ihm aber die Kenntnisse in den für das Bildungsideal des 19. Jahrhunderts zentralen Sprachen: nicht Englisch, nicht Französisch, nein: Latein und Griechisch waren damals Ausweis einer humanistischen Bildung. Und ohne Latein konnte man damals natürlich nicht zum Professor an einer Philosophischen Fakultät, denen die Physik-Lehrstühle damals zugeordnet waren,
Dr. Stephan Schleissing, Vortrag: Das Innere röntgen, Würzburg 24. Juni 2010
berufen werden. So dachte man zumindest in Würzburg, wohin der bereits an der Züricher ETH promovierte Assistent Röntgen aufgrund der Lehrstuhlberufung seines Lehrers August Kundt das erste Mal im Jahre 1870 kam. Unter Berufung auf die Üblichkeiten an deutschen Universitäten wurde ihm in Würzburg die Habilitation verweigert, die er dann freilich wenig später in Straßburg aufgrund bereits publizierter Forschungsschriften nachholen konnte. Erst als fertigen Professor, den man 1888 von Gießen weglobte, wollte man Wilhelm Conrad Röntgen in Würzburg dann auf einen Lehrstuhl berufen.
Aber wie gesagt: Das war damals, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, keine Würzburger Spitzfindigkeit, sondern an den Universitäten in Deutschland durchaus üblich. Im Rückblick erstaunt jedoch diese Praxis, galten doch Naturwissenschaftler und Physiker im Kaiserreich als Modernisten und dank ihrer Erfindungen und Entdeckungen als Garanten des industriellen Fortschritts. Gleichwohl war das gesellschaftliche Ansehen inbesondere der Ingenieure, aber auch ganz allgemein der technisch orientierten Wissenschaften in Deutschland im 19. Jahrhundert nicht so ausgeprägt, wie es ihr Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand rückblickend vermuten lässt. Und das hing eben auch mit diesem einseitigen Verständnis von „Kultur“ zusammen, in dem zwar die theoretischen Naturwissenschaften sich bald anerkennend Platz verschaffen konnten, die technisch orientierten Disziplinen aber lange Zeit als bloße Hilfswissenschaften für die eigentlichen dem Humanismus Geltung verschaffenden Geisteswissenschaften angesehen wurden.
Warum gehe ich so ausführlich auf diesen gerade in Deutschland lange Zeit kultivierten Vorbehalt gegenüber der Technik und den Technikern ein? Was hat das traditionelle Verständnis von Kultur und Humanismus mit unseren gegenwärtigen Problemen zu tun, die uns angesichts der Fortschritte in Technik und Naturwissenschaften heute beschäftigen? Ich behaupte: Sehr viel. Denn die gesellschaftliche Wahrnehmung, die die sogenannten Lebenswissenschaften – ich nenne exemplarisch: Mikrobiologie, Gentechnik und Hirnfor-schung – in Deutschland gegenwärtig erfahren, hat sehr viel damit zu tun, dass diese Wissenschaften nicht nur Grundlagenforschung betreiben, sondern ihre eigene Relevanz vor allem im Hinblick auf Anwendungen im Bereich der Medizin herausstellen. Damit gerät aber der technische Aspekt von Wissenschaft dominant in den Vordergrund und Fragen des Menschseins werden im Hinblick auf Eingriffstiefen in den Menschen oder die Instrumentali-sierung des Lebens zum Thema. Gegenwärtig beobachten wir: Unsere Bilder vom Menschen wandeln sich. Ist das „Innere“ im Menschen noch der Ort seiner Identität? Was wird aus diesem „Inneren“, wenn wir es mithilfe modernster technischer Geräte ans Licht bringen können? Welchen Einfluss hat die Sichtbarkeit unserer Natur auf das Verständnis unserer eigenen Natur?
Auf den ersten Blick besteht zu einer dramatisierenden Rede kein Anlaß. Ganz allgemein kann man beobachten, dass für viele Menschen gerade naturwissenschaftliche Erklärungs-muster zum Verständnis des Menschen von hoher Überzeugungskraft sind. Und beweisen nicht gerade die Fortschritte z.B. in der Medizin und Arzneimittelforschung, dass diese Erklärungsmuster uns Menschen sehr wohl dabei helfen, besser zu leben? Die alte Dominanz eines humanistischen Menschenbildes, in dem auch christliche Vorstellungsgehalte wie z.B. die Rede von einer „Seele“ des Menschen einen zentralen Platz einnahmen, ist für viele
Dr. Stephan Schleissing, Vortrag: Das Innere röntgen, Würzburg 24. Juni 2010
Menschen unverständlich geworden. Es genügt, wenn wir ein – natürlich technisch vermitteltes – Bild von uns haben.
Der Erfolg des naturwissenschaftlich geschulten Blicks hat die Gewissheit, dass im „inneren Menschen“ sein Wesen und Zentrum liegt, ins Wanken gebracht. Aber muss uns dieser Befund heute Anlass zur Klage sein? Oder müssen wir nicht umgekehrt gerade auch in den Geisteswissenschaften daran gehen, den alten Dualismus zwischen Geist und Körper, zwischen „innerem“ und „äußerem“ Menschen zu überprüfen? Auch wenn Erleben und Beobachten ganz unterschiedliche Perspektiven auf den Menschen zum Ausdruck bringen. Müssen wir zwischen beidem einen Gegensatz aufbauen? Angesichts der lange Zeit einseitig kulturell und moralisch dominierten Beschreibungen des Menschen haben uns die modernen Naturwissenschaften gelehrt, dass wir Menschen auch einen Körper haben und dass dieser Organismus sehr wohl beobachtet, beschrieben und verstanden werden kann. Natürlich erleben wir gegenwärtig eine starke Naturalisierung geistiger Vorgänge, was sich z.B. in einer einseitig kausalen Rückbindung mentaler Vorgänge auf materielle Ursache ausdrückt. Aber worum es mir zunächst geht, ist die Beobachtung, dass die gegenwärtig stark naturwissen-schaftlich geprägte Sicht des Menschen nicht als Bedrohung für die Geisteswissenschaften, sondern auch als produktive Herausforderung ihrer bisherigen Annahmen verstanden werden kann. Auch in Kirche und Theologie bieten die neuen Erkenntnisse z.B. in der Hirnforschung oder der Mikrobiologie die Chance, das überlieferte Verständnis des Menschen zu überprüfen. Vieles von dem, was uns als vermeintlich christliche Wahrheit sakrosankt erscheint, verdankt sich kulturellen, zeitabhängigen Einsichten. Ob wir z.B. das Leib-Seele-Problem nur so lösen können, dass wir davon ausgehen, dass Leib und Seele zwei grundverschiedene Substanzen sind, die im Extremfall auch unabhängig voneinander existieren könnten, erscheint mir angesichts der neuen Einsichten in Biologie und Neurologie doch mehr als fragwürdig. Und diese „Fragwürdigkeit“, darauf kommt es mir an, ist für Theologie und christlichen Glauben zunächst einmal nichts Bedrohliches, sondern etwas – im besten Sinne – Herausforderndes sowohl für die eigenene Lehrbildung, als auch für das individuelle Selbstverständnis.
Soweit einige Bemerkungen zur neuen Deutungshoheit, die die Naturwissenschaften bei der Bestimmung der Natur des Menschen in der Neuzeit „zurückerobert“ haben. Gleichwohl ergeben sich dabei neue Fragen und Probleme, auf die ich nun zu Sprechen komme. Sie betreffen alle die Eigenschaft naturwissenschaftlicher Erkenntnis, die Dinge „sichtbar“ machen zu können. Dadurch erscheinen sie auf den ersten Blick realer, auch klarer. Aber verstehen wir auch, was wir sehen, wenn wir den Menschen durchleuchten?
3. Die Sichtbarkeit der menschlichen Natur - oder: Wie umgehen mit der Zukunft des Lebens?
Nachdem Wilhelm Conrad Röntgens Entdeckung einer bis dato unbekannten Strahlung über den Globus verbreitet worden war, veränderte sich natürlich auch sein Bekanntheitsgrad. Doch der Trubel um ihn als Person passte ihm gar nicht. In der Biographie Röntgens, die Albrecht Fölsing verfasst hat, kann man lesen, dass er es sich zum Schutze seiner Privatspäre verbat, dass ihn jemand auf der Straße photographierte. Verständlich, aber: Was wäre die Entdeckung der Röntgenstrahlung wert gewesen, wenn die Technik der Fotographie nicht
Dr. Stephan Schleissing, Vortrag: Das Innere röntgen, Würzburg 24. Juni 2010
bereits vorher erfunden worden wäre? Bei aller Freude und allem Stolz über seine Entdeckung, die so viel Unsichtbares sichtbar machen konnte, äußerte Röntgen in einem Brief auch den Wunsch nach einer weiteren Entdeckung mit gegenteiligem Effekt: „Wenn ich nur noch das alte Geheimnis des Unsichtbarmachens finden könnte.“2
Diese Entdeckung wird wohl noch eine Weile auf sich warten lassen. Denn es gehört zum Wesen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, dass sie die Dinge sichtbar machen und ans Licht bringen will. Das kann sie freilich nur, wenn sie sich dabei ganz bestimmter Experimentalanordnungen bedient. Ohne einen technisch vermittelten Zugriff lässt sich das Unbekannte nicht sichtbar machen. Aber damit wird es auch potenziell verfügbar. Doch wie sollen wir mit den neuen Erkenntnissen umgehen?
Auf zwei derzeit vieldiskutierte Anwendungsbereiche möchte ich – in aller Kürze – eingehen: Das eine ist die Hirnforschung. Hier sind in den letzten Jahrzehnten ganz erstaunliche Fortschritte gemacht worden, die zentral mit der Entwicklung neuer bildgebender Verfahren zu tun haben. Neuroimaging nennt man das heute, die bildliche Darstellung der Struktur, der Biochemie und der Funktion des Gehirns. Insbesondere die Magnetresonanztomographie erlaubt eine hochauflösende strukturelle Darstellung des Gehirns. Das machen sich die kognitiven Neurowissenschaften zunutze, wenn sie psychologische Experimente durchführen und dabei gleichzeitig die Hirnaktivität messen. Dadurch erhält man vor allem Informationen über die Lokalisierung psychologischer Teilprozesse, kann aber auch etwas darüber erfahren, wie ein Prozess funktioniert. Im klinischen Bereich ist dieser Strang der Hirnforschung von eminenter Bedeutung. Genannt seien nur die Entwicklung von sogenannten Neuroprothesen wie z.B. das künstliche Cochleaimplantat für Gehörlose, bei der mittels einer implantierten Spule über Elektroden der Hörnerv des Ohres stimuliert wird. Ebenso ist der Einsatz der tiefen Hirnstimulation zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen ohne die Erkenntnisse in der Hirnforschung nicht denkbar. Und schließlich sind die Erfolge auf dem Gebiet der Neuropharmakologie zu nennen, die zur Entwicklung nebenwirkungs-ärmerer Psychopharmaka geführt haben. Bekannt geworden ist das Antidepressivum Prozac. Allerdings – und das ist die andere Seite – kann man dieses Medikament auch zur Stressreduktion oder zur Stimmungsaufhellung bei Gesunden einsetzen. Auch wenn die Techniken im Bereich des human enhancement – der Verbesserung menschlicher Fähigkeiten – noch nicht soweit fortgeschritten sind, wie es die öffentliche Diskussion manchmal glauben lassen möchte, stellt sich durch die angewandte Hinrforschung doch zunehmend die Frage, wie wir noch eindeutig die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit aufrecht-erhalten können. Gerade im mentalen Bereich ist die Grenze zwischen Heilung und bloßer Verbesserung nicht immer leicht zu ziehen. Unsere leistungsbezogene Kultur erzieht uns immerhin zu permanenter Fitness. Doch ist die Hirnforschung auch in der Lage, die Folgen dieser Stimulation auf unser Selbsterleben als Person angemessen in den Blick zu bekommen? In dem Maße, indem wir mithilfe der Technologie unser eigenes Reiz-Reaktionsverhalten besser beeinflussen können, stellt sich doch zugleich die Frage, ob es unserer individuellen Lebensführung auch zuträglich ist, wenn wir – sicher in Abhängigkeit von der jeweiligen Befindlichkeit, die uns dabei antreibt – uns in dieser Weise selbst manipulieren.
2 Wilhelm Conrad Röntgen an J.W. Gunning, Sorrent, 1. April 1896, in: van Wylick, 1996,1, zitiert nach Albrecht Fölsing: Wilhelm Conrad Röntgen. Aufbruch ins Innere der Materie, München 1995, 179.
Dr. Stephan Schleissing, Vortrag: Das Innere röntgen, Würzburg 24. Juni 2010
Ein zweites Beispiel ist die assistierte Reproduktion mithilfe der künstlichen Befruchtung. In ihr wird etwas sichtbar gemacht, was lange Zeit nur verborgen gewusst werden konnte: der Akt der Zeugung. Dieser wird nun auf einen biologisch beschreibbaren Prozess fokussiert und reduziert, der zum Wesentlichen der Fortpflanzung erklärt wird: Die DNA der Fortpflan-zungszellen und/oder Embryonen können beliebig isoliert und in andere Menschen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten eingepflanzt werden. Unfruchtbaren Paaren kann damit ein Kindersegen ermöglicht werden, auch eine Leihmutterschaft ist möglich, so dass die genetische von der sozialen Elternschaft getrennt werden kann. Angesichts der großen Bedeutung, die der Wert der Familie in unserer Gesellschaft hat, wird man diese Möglich-keiten mithilfe der künstlichen Befruchtung nicht geringschätzen.Was uns Menschen dabei gleichwohl zum Problem werden kann, ist die intuitive Vertrautheit unserer Herkunftsbe-ziehung. Wir leben als Personen in dem Bewusstsein, geboren und nicht gemacht worden zu sein. Doch auf welchem Weg kann es gelingen, dass wir unser Eingebundensein in Familien-beziehungen als zufällig – also: nicht notwendig – anerkennen können und so eine Verbindlichkeit im Leben schrittweise aufbauen, die gerade durch das Nichtgeplantsein von Herkunftsverhältnissen möglich wird? In früheren Zeiten wurde der Zusammenhang unserer Fortpflanzung dadurch gestiftet, dass dafür ganz verschiedene Ereignisse verantwortlich gemacht wurden, ohne dass einem Einzelnen der ausschließliche Primat zukam. Die Wissenschaftstheoretikerin Helga Nowotny hat das vor kurzem so ausgedrückt: „Es gab […] Raum für Götter und Ammen, für unbefleckte Empfängnis und unterschiedliche Vaterschaft, wohingegen jetzt ausschließlich die genetische Sicht der Dinge vorherrscht.“3 Ist die Frage unserer familiären Zugehörigkeit dadurch wirklich einfacher geworden?
Vor neue Fragen stellen uns auch die diagnostischen Möglichkeiten, wenn wir z.B. vor der Einpflanzung einer befruchteten Eizelle in die Gebärmutter der Frau wissen wollen, ob die DNA des Embryos genetische Schäden aufweist. Mithilfe der pränatalen Diagnostik kann – wesentlich risikoloser als bei einer Fruchtwasseruntersuchung – bereits im Anfangsstadium der Entwicklung zu einem Menschen festgestellt werden, ob dessen Erbsubstanz geschädigt ist. In einigen Fällen ermöglicht dies rechtzeitige therapeutische Eingriffe, manchmal führt dies aber auch dazu, dass ein Paar sich dazu entschließt, ein schwer behindertes Kind durch die Mutter gar nicht erst auszutragen. Die Frage nach der Beziehung zwischen Eltern und Kind wird auch hier ganz auf den genetischen Aspekt reduziert, in der Erwartung, dass die heutige Entscheidung pro bzw. contra Schwangerschaft bereits ein sicheres Urteil darüber erlaubt, wie man in der Zukunft zusammenleben könnte. Damit tritt prognostisches Wissen an die Stelle einer vorwissenschaftlichen Alltagserfahrung, die uns zwar viele Unsicherheiten im Leben aufbürdete, zugleich aber auch von Entscheidungen entlastete, die wir nun als Folge wissenschaftlicher Erkenntnis unvermeidbarer Weise zu treffen haben. Was von Natur aus gut ist, versteht sich längst nicht mehr von selbst. Was wir darum in Abhängigkeit von den Fortschritten in Technik und Naturwissenschaften brauchen, ist die Ausbildung einer Kultur, die uns zuversichtlich macht, dass wir die neue Sichtbarkeit und Planbarkeit des Lebens auch in eine verantwortliche Lebensführung übersetzen können.
3 Helga Nowotny/Guiseppe Testa: Die gläsernen Gene. Die Erindung des Individuums im molekularen Zeitalter, Edition Unseld, Frankfurt am Main 2009, 25.
Dr. Stephan Schleissing, Vortrag: Das Innere röntgen, Würzburg 24. Juni 2010
4. Nicht innen, nicht außen: Der einzelne Mensch
Mit dem zuletzt Gesagten komme ich also zuletzt wieder dahin zurück, wo ich begonnen habe: der Bedeutung von Kultur für das Verstehen menschlicher Natur. Kultur haben wir, weil wir mit unserer Natur einen Umgang finden müssen. Beides in einen Gegensatz zu bringen, wäre naiv. Deshalb meine eingangs geäußerte Kritik an einer allzu pauschalen Gegenüberstellung von „Innerlichkeit“ und „Äußerlichkeit“. Vielmehr gilt die Bestimmung des Anthropologen Helmuth Plessner: „Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt.“4 Als exzentrisches, offenes Wesen, das er von Natur aus ist, ist er darum seiner Existenzform nach auch immer ein künstliches Wesen, das der Kultur zur Gestaltung seiner selbst bedarf. Das führt uns zu der Frage, was denn nun an die Stelle der Unterscheidung zwischen innen und außen treten könnte. In Aufnahme der christlichen Tradition möchte ich sagen: es ist der einzelne Mensch. Nicht Seele allein, auch nicht Körper allein. Nein, es ist der einzelne, ganze Mensch, der in der biblischen Tradition das Zentrum bildet. Diesem einzelnen Menschen kommt die Würde zu, die die alttestamentlichen Zeugnisse mit dem Begriff der „Gottebenbildlichkeit“ bezeichnen. Damit ist nicht einfach ein fixer, natürlicher Zustand bezeichnet, sondern eine Bestimmung. In der Perspektive des christlichen Glaubens ist der Mensch nicht einfach „fertig“ da, sondern er entwickelt sich erst zu einem ganzen Menschen.
Wie können wir uns nun diese Entwicklungsfähigkeit des Menschen vorstellen? In den Medien und der breiten Öffentlichkeit werden naturwissenschaftliche Entdeckungen oft als Konkurrenz zu oder gar Ablösung von religiösen Beschreibungen des Lebens thematisiert. Craig Venter wird dann als Schöpfer des Lebens gefeiert oder kritisiert und Neurowissen-schaftlern wird zugeschrieben, dass sie den Geist des Menschen wie eine Maschine verstehen können. Die gegenwärtig zu beobachtende Naturalisierung des Menschen wird in dieser Perspektive als Allmacht des Menschen inszeniert, dessen Verfügbarmachung keine Grenzen gesetzt sind. Fragt man dann bei den einschlägigen Wissenschaften genauer nach, dann zeigt sich, dass bahnbrechende Erkenntnisse in der Regel mit einem Bündel an neuen Forschungs-fragen verknüpft sind. Was die Welt „im Innersten zusammenhält“ liegt jenseits seriöser wissenschaftlicher Erkenntnis. Das Leben und auch der Mensch sind komplex. Das mensch-liche Genom z.B. ist nicht eine zentrale Steuerungseinheit wie sie bei einem Computer anzutreffen ist, sondern steht in einem komplexen Interaktionszusammenhang mit der Zelle und dem Organismus, so dass letzte und einfach zusammengesetzte Ursachen in der Regel nicht zu finden sind. Das Leben ist komplex, d.h.: es bleibt undurchschaubar und damit müssen wir zu leben lernen. Naturwissenschaftler und Techniker sind keine gottgleichen Schöpfer, auch wenn sie in hohem Maße kreativ forschen und Unbekanntes ans Licht bringen. Ihre Erfolge sollte man nicht gegen religiöse Aussagen über das Leben und den Menschen in Stellung bringen. Denn die Religion beschreibt den Menschen nicht als etwas, was es erst aufzudecken gilt, sondern was – vor Gott – bereits erkannt ist. Uns selber bleiben wir aber ein Stück weit immer unbekannt, auch wenn wir uns durch Erfahrung besser verstehen lernen. „Unser Wissen ist Stückwerk“, hat der Apostel Paulus einmal gesagt und hinzugefügt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ (1 Kor 13, 9.12)
4 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (Sammlung Göschen 2200), Berlin 1975, 310.
Dr. Stephan Schleissing, Vortrag: Das Innere röntgen, Würzburg 24. Juni 2010
Der Mensch ist ein Wesen, das im Kern nur über seine Unsichtbarkeit verstanden werden kann. Theodor Heuss hat einmal den grundgesetzlich geschützten Wert der Menschenwürde als eine „nicht-interpretierte These“ beschrieben. Auf diesem Wege wollte er ihre Gewährung vor einseitigen und verkürzenden Eigenschaftszuschreibungen bewahren und sie so in ihrer Unantastbarkeit schützen. Ein Vorläufer für diese Einsicht in die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist das alttestamentliche Bilderverbot: „Du sollst Dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.“ (Ex 20,4) Das bedeutet nun wirklich nicht, dass der Mensch nicht in das Leben eingreifen, es nicht verändern dürfe. Diese Aufgabe ist ihm vielmehr mit dem Auftrag zur Gestaltung der Schöpfung mitgegeben. Aber „ein Bild machen“, das geht weit darüber hinaus. Es ist der Anspruch, Individualität vollstän-dig beschreiben zu können. Dazu müsste man aber an die Stelle eines anderen Menschen treten können und das wäre im Kern gerade diejenige Verletzung der Würde, die es nach Heuss abzuwehren gilt. Bilder stellen immer ein Individuelles dar. Ob wir eine Landschaft, ein Portrait oder ein Stilleben betrachten – es handelt sich immer um ein Exemplar, nicht um den Gegenstand an sich. Deshalb brauchen Bilder Rahmen. Sie machen deutlich, dass es sich bei dem Dargestellten immer um einen Ausschnitt handelt. Diese beiden Eigenschaften – die Einmaligkeit und der Rahmen, in dem diese erst erkannt wird – treffen aber auch auf Menschen zu, die wir als Individuen und als offen für die Zukunft wahrnehmen. Bildbegriff und Menschenbegriff haben nicht zufällig etwas gemeinsam. Denn in der Anthropologie ist der Mensch zugleich das Subjekt und das Objekt der Frage. Dieser Sachverhalt setzt aber nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch ethische Grenzen: denn das, was wir als Fragende über den Menschen erfahren möchten, wollen wir als Befragte nicht unbedingt preisgeben. Anders formuliert: Während wir als Fragende den Menschen in einer präzisien Formulierung bestimmen und verstehen und damit festlegen wollen, achten wir als Befragte auf unsere Freiheit von solchen Fixierungen. Diese Diskrepanz ist einer der Kernpunkte des gegenwärtigen Streits um die Deutungshoheit des Menschen in den Lebenswissenschaften.
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Menschen sind keine Gegensätze, sondern die zwei Seiten des Umgangs mit unserer Natur. Der Philosoph Johann Gottfried Herder hat den Menschen einmal als den „ersten Freigelassenen der Schöpfung“ bezeichnet: „Wie kein getriebenes Geschoß der Atmosphäre entfliehen kann, aber auch, wenn es zurückfällt, nach ein und denselben Naturgesetzen wirket, so ist der Mensch im Irrtum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigeborener; wenn noch nicht vernünftig, so doch einer bessern Vernunft fähig; wenn noch nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar.“5 Und ich möchte ergänzen: Mit sich und der Welt nie ganz fertig.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
5 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Darmstadt 1966, 120.
Dr. Stephan Schleissing, Vortrag: Das Innere röntgen, Würzburg 24. Juni 2010
OGA MEDIUM (OXYTETRACYCLINE GLUCOSE AGAR BASE) CAT Nº: 1527 For the enumeration and isolation of yeasts and molds in food samples FORMULA IN g/l Final pH 6.5 ± 0.2 at 25ºC PREPARATION Suspend 15 grams of the medium in 500ml of distil ed water. Mix well and dissolve by heating with frequent agitation. Boil for one minute until complete dissolution. Sterilize in autoclav
RESUMEN-COMENTARIO DE LA CUESTIÓN 94 A Tomás de Aquino se le conoce como al autor de una síntesis entre aristotelismo y cristianismo. Bien, una síntesis no es lo mismo que una coincidencia plena: ambas éticas tienen carácter teleólogico (toda la argumentación se construye sobre el fin del ser humano), ambas son éticas materiales, ambas sitúan a la felicidad como el fin suprem