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"Damals, 1941, habe ich aufgehört zu leben". Schweizer Hilfe an Opfer des Nationalsozialismus in
Weissrussland
    Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 8.Januar 2000.*     Eng drängen sich an einem provisorisch verlängerten Tisch alte Frauen, die mit ihrer sorgfältigen Kleidung ihre Armut zudecken. Ihre Gesichter sind gezeichnet von den Entbehrungen und Verletzungen eines schicksalsschweren Lebens. Die Männer in der Runde sind rar, einer trägt sowjetische Auszeichnungen am Revers. Es herrscht Feststimmung. Liebevol arrangierte Gerichte stehen unberührt auf dem Tisch. Alle üben sich im Warten, im Zuhören. Eine jüngere Frau erläutert die Bedeutung der Speisen im jüdischen Ver- ständnis. Das bittere Kraut maror (hebräisch), dem Meerrettich ähnlich, erinnere an die Bitternis der ägypti- schen Gefangenschaft. Das russische Wort für Jude, jewrej, gehe auf den Fluss Euphrat zurück. Klara, die die Speisen erläutert, aus der Bibel erzählt und hebräische Lieder vorsingt, ist gern gesehen bei solchen festlichen Anlässen. Sie arbeitet beim Zentrum Chesed Rachamim, das 1995 von der Organisation "Joint" (American Jewish Joint Distribution Committee) für die jüdische Gemeinde Minsk eingerichtet wurde und von Spendengeldern und freiwilligen, meist unbezahlten Helfern in Betrieb gehalten wird. "Tjoplye doma" - Warme Häuser .   Wir sind zu Gast in einer jener Privatwohnungen, wo sich Überlebende des Minsker Ghettos regelmässig treffen, um zusammen zu speisen, etwas über ihre Religion zu erfahren, aus ihrer leidvollen Vergangenheit zu erzählen. Das ermöglicht das Projekt "Warme Häuser" auf unbürokratische Art: Ein gutes Dutzend Woh- nungen in der weissrussischen Hauptstadt, in denen Holocaust-Überlebende zu Hause sind, werden so ausgerüstet, dass Gastfreundschaft überhaupt möglich wird. "Warm" bezieht sich zwar auch auf die Hei- zung, vor al em aber auf die Atmosphäre. Hier kann zur Sprache gebracht werden, worüber mehr als ein halbes Jahrhundert geschwiegen wurde, hier werden auch medizinische Ratschläge, Kleider und weitere Gaben getauscht. Wer Mühe hat mit dem Gehen, wird mit einem Fahrdienst zu den monatlichen Treffen gebracht. Besonders an hohen Feiertagen - Pessach, Purim oder Rosch Haschana - soll wirklich niemand einsam sein.   Nicht ale Gäste sind so gesprächig wie Tatjana Gildener. Sie war 23 Jahre alt, als Minsk am 23."Juni 1941 von den deutschen Truppen besetzt wurde. Als das Haus der Familie brannte, flohen alle zur Grossmutter. Bereits am 1."August desselben Jahres wurde in Minsk ein Ghetto eingezäunt, in dem zu leben fortan al e Juden gezwungen wurden, nachdem die nichtjüdischen Bewohner ausquartiert worden waren. Am 7."September erlebte Tatjana den ersten Pogrom: ein Teil der Bewohner wurde mit Gewalt an den Stadt- rand geführt und erschossen. Sie verlor damals ihre Mutter, ihre drei Schwestern mit deren Kindern, die Grossmutter, eine Tante sowie drei Cousinen. Sie selber war blond und kam davon. Fortan lebte sie bei einem Onkel, bis das Ghetto von der Gestapo liquidiert wurde, die auf al es, was sich bewegte, schoss. Humor trotz einem verpfuschten Leben. Sie konnte entkommen, fand bei früheren Nachbarn Unterschlupf und arbeitete wie diese in einer ehemaligen Radioapparate-Fabrik, wo jetzt Kriegsmaterial für die deutschen Besatzer produziert wurde. Am 13."Juni 1944, als die Sowjetarmee näher rückte, wurde sie mit etwa 70 Leidensgenossen nach Bergen-Belsen verschleppt, wo sie als Zwangsarbeiterin mit Pferdewagen schwere Lasten transportieren musste. Bei Kriegsende befreiten die Engländer das Lager und führten die Ver- schleppten in deren Heimat zurück. Wie viele andere hatte Tatjana Tuberkulose und ein schweres Rücken- leiden. Bis 1953 blieb sie arbeitsunfähig, dann konnte sie als Ingenieurin ihre Arbeit aufnehmen in einem wissenschaftlichen Institut für Baumaterialien. "Mit 23 Jahren habe ich aufgehört zu leben", sagt die heute 81jährige. Als "Krüppel" habe sie nie geheiratet. Ihre Liebe ist die Musik, als geschätzte Spezialistin war sie in vielen Teilen der Sowjetunion, überall besuch- te sie Theater und Konzerte.50 Jahre nach der Befreiung des Lagers reiste sie nach Bergen-Belsen mit einer Gruppe Überlebender. Danach habe sie wieder jene Albträume von der Verfolgung gehabt. Sie traf dort einen deutschen Juden, der damals im Minsker Ghetto war und heute in Schweden lebt. Die aus deutschen Städten kollektiv Deportierten waren in separate Wohnblocks innerhalb des Ghettos eingewiesen worden, jeder Kontakt mit einheimischen Juden war verboten. Weissrussische und russische Juden wurden ausgehungert und sporadisch dezimiert, so wurde laufend Platz geschaffen für Neuankömmlinge. Interne Weisungen der nationalsozialistischen Machthaber belegen, dass zynisch kalkuliert wurde, ein deutscher Jude erbringe im Vergleich zum slawischen eine mehrfache Arbeitsleistung."Druschba dorosche djeneg", sagt Tatjana: "Freundschaft ist kostbarer als Geld." Sie korrespondiert mit vielen Menschen, ob sie nun in Odessa, in Kiew oder in Amerika leben. Das Zentrum Chesed Rachamim, das auch einen Verleih mit Geh- hilfen und einen ambulanten Mahlzeitendienst betreibt, schickt ihr eine Hauspflege, denn wegen ihres mehr- fach operierten Beckenbruchs geht Tatjana an Krücken. Sie trage einen Eiffelturm in der Hüfte, lacht sie mit dem ihr eigenen Humor. Sie ist froh, aus ihrer Einzimmerwohnung ab und zu herauszukommen, im "war- men Haus" mit Schicksalsgenossen zu reden. Rassische und politische Opfergruppe Weissrussland war wie die Ukraine traditionelles Ansiedlungsgebiet von Juden. Nirgends sonst in der Sowjetunion war ihr An- teil an der Wohnbevölkerung so hoch. Für das Dritte Reich konzentrierten sich hier die Erzfeinde - Juden und Bolschewisten -, zumal sich viele jüdische Zivilisten nach dem deutschen Überfal in den Wäldern ver- steckten oder sich später, falls sie dem Ghetto entkamen, den Partisanen anschlossen.   Spuren des einstmals sehr präsenten jüdischen Lebens sind in der Stadt Minsk wie in ganz Weissrussland nur noch wenige auszumachen. Viele Synagogen wurden schon vor dem Krieg zweckentfremdet oder ab- gerissen, weitere dann durch Bomben zerstört. Denkmäler für die verfolgten und umgebrachten Juden - auch für die aus Bremen, Düsseldorf und weiteren deutschen Städten hierher deportierten - werden erst seit kurzem errichtet. Geblieben sind drei Synagogen verschiedener Ausrichtung. "Joint" verlangt, dass die von den Hilfsaktionen Begünstigten einer Gemeinde beitreten. Viele wol en das nicht, da ihre Familien längst assimiliert waren, als der Krieg begann. Andere schicken ihre Kinder in den Unterricht, sie sol en nach Israel heimkehren, dem in Belarus grossen Armutsrisiko entrinnen.   Ein Viertel der damals etwa neun Millionen zählenden Bevölkerung Weissrusslands wurde während der dreijährigen deutschen Besetzung umgebracht: Kriegsgefangene, Partisanen, ein Grossteil der jüdischen Zivilbevölkerung. Überdies kamen Hunderttausende als Angehörige der Roten Armee im Kampf für das Vaterland um. Dass 700"000 von den 2,23 Millionen Opfern Juden waren, war nach dem Krieg kein Thema. Stalin brauchte ein einziges Volk von Helden für die Bestärkung seines Sowjetpatriotismus. Viele im letzten Kriegsjahr in deutsche Lager Verschleppte, mehrheitlich Juden, landeten nach der Heimkehr als "Verräter" für Jahre im Gulag. Ein Friedhof für ausgelöschte Dörfer Auf dem Territorium des früheren Chatyn, das im März 1943 wie 185 weitere Dörfer und Weiler von den Faschisten dem Erdboden gleichgemacht wurde, befindet sich seit 1970 eine Gedenkstätte für den Völkermord an den Weissrussen. Damals waren alle Be- wohner Chatyns aus den Häusern getrieben und verbrannt worden. Ein einziger, Jossif Kaminski, überlebte, sein sterbendes Kind in den Armen. Als riesige Eisenplastik steht er im Zentrum der Anlage, die jedem aus- gelöschten Dorf ein Grabmal, einen schwarzen Kubus, widmet. "Die Toten für die Lebenden, die Lebenden für die Toten" steht am Eingang zu der Gräberlandschaft. Puschapad, Spabada, Traszjanez und viele wei- tere Ortsnamen gibt es nicht mehr. Der hohle Klang von Totenglocken trägt sich in regelmässigen Abstän- den über das von einem eisigen Wind heimgesuchte Feld. Als junger Architekt war Leonid Levin an dem 1970 preisgekrönten Denkmalprojekt beteiligt. Seit einigen Jahren ist er, der seine Religion während der Sowjetzeit nie gelebt hatte, Präsident des weissrussischen jüdischen Gemeindebundes und kümmert sich um den Aufbau von Strukturen für die heute rund 26‘000 Angehörigen der Glaubensgemeinschaft und um die Ehrung der Opfer, die man heute als Juden benennen darf.   Obwohl nicht ale zerstörten Dörfer für immer verschwunden sind - über 400 wurden nach dem Krieg wieder aufgebaut -, können viele Weissrussen nur mehr in der Erinnerung zurück an den Ort, an dem sie geboren wurden. Die heutige Landkarte stimmt mit ihrer Kinder-Landkarte nicht mehr überein. Die Hitler-Banditen hätten Zehntausende von friedlichen Sowjetbürgern umgebracht, hiess es nach Kriegsende in den vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei redigierten Protokollen, obwohl die Befreier aus den Reihen der Roten Armee festgehalten hatten, es habe in diesem Landstrich eine massive und bestialische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung stattgefunden. Wer an das Los der Juden öffentlich erinnerte, wurde auch nach Stalins Tod - wie etwa der Schriftstel er Vassili Grossmann - noch lange als Dissident geächtet. Die Juden wurden pauschal der USA-Hörigkeit verdächtigt, denn in ihren Augen habe Amerika Israel gerettet. Wider das Vergessen Im Zentrum Chesed Rachamim wird auch - unter Mitwirkung einer Psychologin - Erinne- rungsarbeit geleistet.   Eine Chronik des Terrors, den die Juden Weissrusslands von 1941 bis 1944 durch die Invasion der Hee- resgruppe Mitte und unter der deutschen Zivilverwaltung "Generalkommissariat Weissruthenien" erlitten, liegt in zwei Bänden gedruckt vor. Doch viele Memoiren warten noch auf ihre Niederschrift. Manche Überle- bende finden keine Sprache, um über ihre Wunden zu reden, andere versuchen, wenigstens heute ein gu- tes Leben zu führen, obwohl ihnen die Armut zu schaffen macht. Wer Kinder und Enkel hat, nimmt an deren Zukunft teil. Maj Danzig, als Maler Chronist jener Stadt Minsk der Vorkriegszeit, die für immer zerstört wur- de, freut sich über die Perspektive seiner Tochter, die in Litauen und in Israel Musik studiert hat, und malt weiterhin, auch Chagalls Witebsk, aus der Erinnerung. Unter den Überlebenden ist auch Sina, die mit 13 Jahren mit ansehen musste, wie ihre Schwester vergast wurde, und 1942 bei den Partisanen untertauchte. Von der Gestapo entdeckt und nach Auschwitz verschleppt - die übliche Arbeitskräftepolitik der Besatzer -, musste sie Steine hauen und landete schliesslich noch im Frauenlager Ravensbrück, bis dieses am 2. Mai 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Mit einer Gruppe anderer Überlebender aus Weissrussland machte sie sich zu Fuss Richtung Brest auf den Heimweg durch das verwüstete Land, kam im Frühjahr 1946 in Minsk an, wo das KGB sie sofort verhörte und wissen wol te, auf welcher Seite sie gestanden habe. Von dem Ausflug, zu dem Auschwitz-Überlebende im Rahmen der Wiedergutmachung 50 Jahre nach Kriegsende eingeladen wurden, brachte sie zur Vergewisserung ein paar Steine mit.   Hilfe im mehrfach geschundenen Land     Swetlana Winokurowa vom belarussischen Gesundheits- und Sozialdepartement sagt, vor dem Reaktorun- fal von Tschernobyl hätte die Republik, damals noch in die Sowjetunion eingebunden, keine humanitäre Hilfe benötigt. Doch die radioaktive Verseuchung, die weite Gebiete unbewohnbar werden liess und Mas- senumsiedlungen auslöste, stürzte das Land in die zweite grosse Katastrophe in diesem Jahrhundert. Viele sind seither an Leukämie gestorben, Kinder serbeln. Zudem führt durch Weissrussland seit dem Ende der Sowjetunion die Ost-West-Route für den Drogenhandel, wurde mit der Prostitution die Zeitbombe Aids im- portiert. In medizinischen und ökologischen Projekten ist die Schweiz in Weissrussland involviert über das Grüne Kreuz oder mit Direkthilfe einzelner Kliniken. Aus Tradition und aus Not wohnen viele Juden, aber auch Roma in Todeszonen wie Gomel und Mogiljow.Für die jüdischen Gemeinden und die weit weniger gut organisierten Roma der Krisen- Republik setzt sich neben den internationalen Hilfsorganisationen auch der "Fonds für Menschlichkeit und Gerechtigkeit" ein, der im Februar 1997 von einer Gruppe initiativer Schwei- zer ins Leben gerufen wurde. Präsidiert vom Basler Ständerat Gian- Reto Plattner, unterstützt er Projekte und Organisationen, die sich bedürftiger Opfer des Zweiten Weltkriegs annehmen. Eine dieser Organisatio- nen ist die in Weissrussland seit Jahren wirkende Aktionsgemeinschaft für die Juden der ehemaligen Sow- jetunion (AJS), die mit Martina Frank und Monique Sauter zwei beherzte Praktikerinnen zu Partnerinnen des Fonds werden liess. Der Trägerschaft des Fonds gehört auch der Zürcher Bankier Hans J."Bär an, der sich im Sinne eines Geschenkes zu seinem 70."Geburtstag für das Minsker Projekt der "warmen Häuser" engagiert. Dies auch über die Existenz des "Fonds für Menschlichkeit und Gerechtigkeit" hinaus, der in den vergangenen drei Jahren Hilfsaktionen - zu einem beachtlichen Teil in Weissrussland, aber auch in andern Ländern Ostmitteleuropas - mit insgesamt 3 Millionen Franken Spendengeldern unterstützt hat und der sich, nach getaner Arbeit, Ende Januar 2000 auflösen wird.                 * Wiedergabe des Artikels mit freundlicher Genehmigung der NZZ

Source: http://www.ajs-schweiz.ch/pdf/NZZ-Bericht-Regula-Heusser-Markun.pdf

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